Nachfolgend veröffentlichen wir einen Artikel von Nicklas Boden, der 1m 6. Januar 2012 im Cercle «Les Echos» erschienen ist (http://lecercle.lesechos.fr):
Kann das «Grundeinkommen» einen Ausweg aus der Krise zeigen?
Seit dem Jahr 2008 befindet sich die Welt in einer Krise. Seit dem Jahr 2008 reagiert die Politik mit Sparplänen, und seit dem Jahr 2008 zeigt dieser ökonomische Traditionalismus keine Wirkung. Warum nicht in dieser Situation neue, unverbrauchte Ideen prüfen wie z.B. das bekannte Modell eines Grundeinkommens bzw. einer Sozialdividende?
Eine Krise entsteht dann, wenn das Alte stirbt und das Neue noch nicht entschlossen ans Tageslicht drängt. Diese Definition stammt von Antonio Gramsci, Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Italiens, und sie ist heute topaktuell. Unser System ist an sein Ende gekommen, und all die verzweifelten Versuche der herrschenden Klassen, es weiterhin am Leben zu erhalten, sind vergebens. Leistung und Reichtum müssen neu verteilt werden. Das geht nicht mit kleineren oder grösseren Reformen des Steuersystems; es braucht einen echten Big Bang.
Europa zeigt ein Bild der Zerrissenheit mit riesigen Ungleichheiten und bedroht durch die Schuldenlast der Staaten. Was spricht in dieser Situation gegen die Einrichtung eines Grundeinkommens? Die Ausschüttung eines einheitlichen Einkommens an alle Bewohner/innen eines Landes, unabhängig von ihren anderen Einkünften, vom Vermögen und von ihrer beruflichen Stellung, erlaubt es jedem Individuum, seine Grundbedürfnisse zu stillen (Nahrung, Wohnung, Kleidung usw.); daneben steht es allen frei, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen einzurichten.
Diese Idee ist alles andere als eine Spinnerei. Sie findet sich in den Grundzügen bei Voltaire. In der Erzählung «Der Mann mit den 40 Talern» berechnet Voltaire einen fiktiven Ertragswert aller Ländereien im Königreich, der zwischen allen Untertanen aufgeteilt wird, und kommt auf die Summe von 40 Talern. Sein Held richtet sich so ein, dass er mit diesem Betrag leben kann und damit seine völlige Freiheit erlangt, da er nicht mehr zur Arbeit gezwungen ist.
Die Idee entwickelte sich und breitete sich nach und nach aus und fand viele Anhänger, vor allem in Nordamerika. In den Vereinigten Staaten kennt der Bundesstaat Alaska ein solches Einkommen seit dem Jahr 1976. Es wird vom Alaska Permanent Fund ausgeschüttet, welcher über die Mineralreserven verfügt, namentlich das Erdöl. So erhielt im Jahr 2003 jeder Einwohner von Alaska (einschliesslich Kinder) die Summe von rund 1000 Euro; im Jahr 2004 waren es 850 Euro. Die Regierung des kanadischen Bundeslandes Alberta zahlt seit 2006 jedem Einwohner 400 kanadische Dollars, die aus den Erdöllizenzen finanziert werden. Natürlich handelt es sich hier um dünn besiedelte Landstriche mit gewaltigen Bodenschätzen, und in Frankreich wäre ein solches System viel teurer.
Trotzdem beschäftigen sich zahlreiche Ökonomen ernsthaft mit dem Modell. Jacques Marseille schlug in seinem 2009 publizierten Buch «L'argent des Français» (Das Geld der Franzosen) ein Grundeinkommen von 750 Euro vor, um die Prekarität zu bekämpfen. Gemäss seiner Argumentation beruht das Grundeinkommen darauf, dass die soziale Eingliederung niemals auf Zwang beruhen kann, sondern nur auf dem Vertrauen, das man in die Begünstigten dieses neuen Grundrechtes setzt.
Auch unter den Politikern gibt es Zulauf zum Grundeinkommens-Konzept, unter anderem mit den beiden Präsidentschaftskandidaten Dominique de Villepin und Christine Boutin. Der ehemalige Premierminister spricht von einem Bürgergeld in der Höhe von 850 Euro, das aber an bürgerrechtliche Gegenleistungen gebunden ist (Einschreibung in die Wahllisten, Engagements in Vereinen, Schaffung nicht lukrativer Aktivitäten usw.). Die Präsidentin der christlich-demokratischen Partei ihrerseits schlägt vor, unser System an Steuern und Sozialleistungen neu aufzubauen und zu vereinfachen; dabei würde ein Grundeinkommen von 400 Euro monatlich für alle Erwachsenen und von 200 Euro für Kinder bis zu 18 Jahren die unzähligen bestehenden Unterstützungszahlungen ersetzen. Auch Alternative Libérale vertritt dieses Konzept, ebenso wie die Grünen seit dem Jahr 2007, auch wenn es gegenwärtig keinen Schwerpunkt der Kampagne von Eva Joly bildet.
Die Hauptkritik betrifft die Kosten eines solchen Systems. Christine Boutin sagt dazu: «Das Grundeinkommen führt zu keinerlei Mehrkosten für das Staatsbudgets. Stattdessen bringt es Rechte und Pflichten für alle Individuen, und es reduziert die Soziallasten der Unternehmen.»
Jacques Marseille bestätigt diese Diagnose: «Im Jahr 2007 beliefen sich sämtliche Sozialleistungen, welche der französische Staat an die Bewohner ausrichtete, auf 578 Milliarden Euro, d.h. 29% des BIP oder fast 60% aller öffentlicher Ausgaben; das sind etwas über 9000 Euro pro Franzose. (...) Wenn man allen über 18-jährigen Franzosen ein Grundeinkommen von 750 Euro pro Monat ausschüttet und 375 Euro allen unter 18-Jährigen, würde diese «revolutionäre» Sozialleistung 510 Milliarden Euro kosten. Allerdings wäre die Einrichtung eines solchen garantierten Einkommmens von der Geburt bis zum Tod verbunden mit der Abschaffung zahlreicher bestehender Leistungen. Sie würden in ein Einheitssystem überführt mit einfachen Auszahlungen und kompletter Transparenz, das den Dschungel der zahllosen bestehenden Einrichtungen zur sozialen Sicherung auf einen Streich beseitigen würde.»
Der Ökonom Jacques Marseille ist am 4. März 2011 gestorben. Er, die Grünen, Christine Boutin, Dominique de Villepin, Alternative Libérale usw. usf., alle kommen sie zum gleichen Schluss: Die Steuern und die soziale Sicherung funktionieren in Frankreich nicht. Die Gesellschaft fördert die Entfremdung und die Prekarität, und die Atomisierung der Hilfeleistungen führt zu keinerlei Eigenverantwortung der Bürger/innen.
Dabei würde ein Grundeinkommen auch während dem ganzen Leben die Durchlässigkeit zwischen Arbeit, Familie und Ausbildung erleichtern und die Effizienz in der Berufsbildung deutlich erhöhen, einer Berufsbildung, für die wir heute 24 Milliarden Euro ausgeben und die durchaus nicht immer jene erreicht, die sie wirklich nötig hätten.
Wenn gewisse Leute heute keine Lust haben zu arbeiten, dann hängt das in erster Linie mit den mangelnden Perspektiven für einen sozialen Aufstieg zusammen, welche in der gegenwärtig sehr wenig solidarischen Gesellschaft fehlen. Die Politik scheitert seit einiger Zeit daran, dass keine innovativen Lösungen mehr gefunden werden. Die Einführung eines Grundeinkommens ist ein Vorschlag, hinter den sich sowohl Marxisten, Liberale, Monetaristen und Umweltschützer als auch Christdemokraten stellen können.
Kommentare